Dissoziation

Wenn das Ich sich trennt, um zu überleben

Manchmal berichten Klient:innen davon, dass sie „wie neben sich stehen“, sich selbst nicht mehr spüren oder die Welt plötzlich „fremd und unwirklich“ erscheint. Manche verlieren die Zeit, haben Erinnerungslücken oder spüren ihren Körper nicht mehr.

All das kann Ausdruck von Dissoziation sein – einem Schutzmechanismus der Psyche, der oft übersehen oder missverstanden wird.

Was ist Dissoziation?

Dissoziation ist keine Krankheit, sondern ein psychischer Abwehrmechanismus. Sie tritt meist in Situationen auf, die für das Nervensystem als unerträglich oder überwältigend erlebt werden – oft in Verbindung mit Trauma, insbesondere in der Kindheit.

Die Psyche trennt in diesem Moment das Erleben – oder Anteile des Erlebens – ab, um das emotionale oder körperliche Überleben zu sichern. Was sich im Moment schützt, kann jedoch langfristig zu großen Belastungen führen.

Formen und Symptome von Dissoziation

Dissoziation tritt in sehr unterschiedlichen Formen auf – von leicht bis schwer:

Häufige Symptome sind:

🧠 Depersonalisation
Das Gefühl, sich selbst fremd zu sein. Der Körper fühlt sich leer, automatisiert oder „nicht zu mir gehörig“ an.

„Ich sehe mich wie von außen, als wäre ich nicht ich.“

🌍 Derealisation
Die Umgebung erscheint fremd, künstlich oder wie durch eine Glasscheibe. Geräusche wirken gedämpft, Menschen scheinen weit weg.

„Alles ist irgendwie unwirklich – wie in einem Film.“

Zeitverlust / Erinnerungslücken
Betroffene verlieren ganze Zeitabschnitte oder können sich nicht erinnern, was sie gesagt oder getan haben.

„Ich war plötzlich zuhause, aber ich weiß nicht mehr, wie ich dort hingekommen bin.“

🧩 Identitätsveränderungen / Wechselnde Zustände
Bei komplexen Formen kann es zu stark unterschiedlichen inneren Zuständen oder Persönlichkeitsanteilen kommen, die sich abwechseln.

„Manchmal fühlt es sich an, als wäre jemand anderes in mir aktiv.“

💤 Emotionale Abwesenheit / Erstarrung
Betroffene berichten davon, nichts mehr zu fühlen – weder Schmerz noch Trauer noch Freude.

„Ich funktioniere nur noch – fühlen kann ich nichts.“

👤 Körperliche Entfremdung
Teile des Körpers fühlen sich nicht mehr verbunden an, es kommt zu Taubheitsgefühlen, Bewegungsblockaden oder unerklärlichen Körperwahrnehmungen.


Warum Dissoziation oft übersehen wird

Dissoziative Symptome sind vielschichtig – und sie überschneiden sich häufig mit anderen Diagnosen wie Angststörungen, Depressionen, Zwangsstörungen, Essstörungen oder sogar ADHS.

Hinzu kommt:
➡ Viele Betroffene selbst können das, was sie erleben, nicht benennen.
➡ Die Symptome erscheinen diffus, schwer greifbar und wechseln.
➡ Dissoziation ist oft nicht das, was jemand schildert, sondern das, was fehlt: Kontakt, Präsenz, Gefühl, Erinnerung.

Deshalb wird Dissoziation häufig falsch verstanden – oder gar nicht erkannt.


Was hilft im Umgang mit Dissoziation?

Dissoziation ist ein Schutzmechanismus – das heißt: Sie hatte (und hat) eine Funktion.
Aber wenn sie zu oft und zu stark aktiviert wird, kann sie das Leben massiv einschränken.

Hilfreich sind:

🧡 Sichere Beziehungen – Menschen, die feinfühlig begleiten, ohne zu überfordern
🧡 Stabilisierende Begleitung – insbesondere mit traumasensiblen Methoden (z. B. NARM)
🧡 Körperorientierte Arbeit – um sanft wieder Zugang zum Hier & Jetzt zu finden
🧡 Verständnis statt Pathologisierung – zu wissen: „Ich bin nicht verrückt. Ich habe gelernt zu überleben.“


Fazit: Dissoziation ist eine Überlebensleistung – kein Defekt

Menschen mit dissoziativen Symptomen haben oft das Unvorstellbare erlebt – und überlebt.
Was sie brauchen, ist keine Härte, sondern Halt. Keine Diagnose, sondern echtes Verständnis.

Und manchmal den Satz:
„Was du erlebst, ergibt Sinn – auch wenn es sich chaotisch anfühlt.“

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