Resilienz – Wenn Stärke zur Pflicht wird und die Umstände unsichtbar bleiben
Resilienz – kaum ein Begriff wird in den letzten Jahren so oft bemüht, wenn es darum geht, mit Herausforderungen, Krisen oder psychischen Belastungen umzugehen. Resilienz gilt als Fähigkeit, „wieder aufzustehen“, „widerstandsfähig zu bleiben“, „das Beste daraus zu machen“.
Aber was, wenn man das nicht kann?
Was, wenn man eben nicht zurück ins Leben findet – oder nie wirklich angekommen ist?
Was, wenn Resilienz nicht eine innere Kraft ist, sondern eine Anforderung, der man kaum gerecht werden kann?
Resilienz ist kein Maßstab für Wert – sondern eine Reaktion auf Umstände
Wenn wir über Resilienz sprechen, sprechen wir fast nie über das, was sie notwendig macht:
➡ strukturelle Ungleichheit
➡ anhaltende Belastungen
➡ mangelnde soziale Unterstützung
➡ Gewalterfahrungen oder Armut
➡ chronische Unsicherheit, Ausgrenzung oder Traumatisierung
Menschen, die „nicht resilient genug“ sind, haben nicht versagt.
Sie sind oft schlicht zu lange mit Überforderung allein gewesen.
Die Schattenseite der Resilienzerzählung
In der heutigen Leistungsgesellschaft kann Resilienz schnell zur moralischen Pflicht werden:
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„Du musst halt lernen, damit umzugehen.“
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„Es liegt an dir, wie du damit umgehst.“
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„Du bist stärker, als du denkst – du musst es nur wollen.“
So wird das Leid individualisiert.
Nicht das System, die Umstände oder die Geschichte sind das Problem – sondern scheinbar der Mensch selbst, der „nicht genug Stärke zeigt“.
Das ist nicht nur unfair, sondern oft retraumatisierend.
Was, wenn jemand nicht kann?
Was ist mit jenen, die nicht „zurück ins Leben“ finden?
Die nach schwerem Verlust, Gewalt oder psychischer Krankheit keine Kraft mehr haben, „neu durchzustarten“?
Was ist mit denen, die nie die Ressourcen hatten, um Resilienz überhaupt zu entwickeln?
Diese Menschen brauchen kein „Du schaffst das schon“.
Sie brauchen:
🧡 Anerkennung des Leids
🧡 Sicherheit
🧡 Verbindung
🧡 Zeit
🧡 und das Wissen: „Du musst es nicht allein schaffen.“
Resilienz braucht Beziehung, nicht nur Willen
Im neuroaffektiven Verständnis – wie auch im traumasensiblen Arbeiten – ist Resilienz nichts, was man einfach trainiert.
Sie entsteht aus Bindung. Aus Sicherheit. Aus Ko-Regulation.
Wer nie gehalten wurde, kann sich nicht einfach „zusammenreißen“.
Wer nie erlebt hat, dass sein Schmerz Raum haben darf, kann ihn nicht einfach „verarbeiten“.
Fazit: Kein Mensch ist defizitär, weil er nicht resilient ist
Resilienz darf kein Maßstab für Wert oder Funktionstüchtigkeit sein.
Manche Menschen brauchen nicht mehr Motivation – sondern weniger Druck.
Weniger Erwartung, mehr Mitgefühl.
Weniger „du musst stark sein“, mehr „du darfst schwach sein – und trotzdem da sein“.




